Versuch, meiner Gemahlin Deutschland zu erklären

Als ich neulich versuchte, meiner französischen Gemahlin einige Eigentümlichkeiten der deutschen Geschichte zu erklären, sagte ich: „Stell dir vor, chérie, die französische Einigung wäre nicht von Paris, sondern von Algier, einer französischen Kolonie, ausgegangen“.

So ungefähr ist nämlich die deutsche Einigung verlaufen. Wie allgemein bekannt, war Preußen der Staat, der es schließlich geschafft hat, Deutschland zu vereinen, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen. Wer aber waren diese Preußen eigentlich? Als „Preußen“ bzw. „Pruzen“ oder „Prussen“ pflegte man einen Volksstamm zu bezeichnen, der etwa im späteren Ostpreußen seine Wohnsitze hatte. Im Späten Mittelalter hat es rund zwei Jahrhunderte gedauert, bis diese „Prussen“ in immer neuen Kreuzzügen unterworfen und christianisiert worden waren. Es war der Deutsche Orden, der dies organisierte und dann die Herrschaft in dieser Region ausübte, „Preußen“ war damals so etwas wie eine deutsche Kolonie.

Die dort lebenden „Prussen“ kann man nun beim besten Willen nicht als Germanen oder Deutsche bezeichnen. Die sprachen das sogenannte „Altpreußisch“, das nicht zur germanischen, sondern zu baltischen Sprachfamilie gehört. Ethnisch würden sie am ehesten zu den baltischen Völkern, den Esten, Letten und Litauern rechnen.

Hinzu kam eine dünne Oberschicht aus eingewanderten Deutschen, die einmal als Landadel die Preußen, die größtenteils Bauern und Landarbeiter waren, beherrschte und kontrollierte, und die außerdem in den entstehenden Städten den Handel mit dem Ausland organisierte.

Nicht viel anders sieht es mit Brandenburg aus, neben Preußen zweiter Hauptbestandteil des alten preußischen Staates. Wie man bei Wiki ganz korrekt nachlesen kann, ist Brandenburg ein Produkt der sogenannten „Ostsiedlung“ oder „Slawenmission“. Hier wurde in einem sich über Jahrhunderte hinziehenden Prozess eine ursprünglich slawische und heidnische Bevölkerung germanisiert und christianisiert. Hinzu kamen deutsche Ansiedler, die sich allmählich, sehr allmählich, mit den Einheimischen vermischten. Die Sorben in der ehemaligen DDR sind noch ein Überrest dieser Urbevölkerung. Man kann sich die Verhältnisse wohl ungefähr wie im heutigen Südafrika vorstellen oder wie – um zum Eingang zurückzukommen – wie in Algerien im 19. Jahrhundert.

Während vom Mittelalter bis etwa zum 18. Jahrhundert der Trend für die Ausdehnung des entstandenen preußischen Staates in Richtung Osten ging, drehte sich dieser Trend zu Beginn des 19. Jahrhunderts um, und damit beginnt sozusagen entweder die Geschichte der deutschen Einigung oder die Geschichte der deutschen Unterjochung und Kolonialisierung durch Preußen. Vorherrschend war immer die erste Sichtweise, man könnte aber ebensogut die zweite wählen. Einen kräftigen Schluck aus der Pulle bedeutete der Wiener Kongress (1814-1815) am Ende der Napoleonischen Kriege, in dessen Verlauf die sogenannte „Rheinprovinz“ – die entwickeltsten und fortschrittlichsten Regionen Deutschlands – einfach so, ohne dass jemand gefragt wurde, Preußen zugeschlagen wurde. Die Rheinländer, die von den Preußen etwa die gleiche Meinung wie die Bayern hatten, fanden sich auf einmal als Preußen wieder (Heinrich Heine etwa war sehr verärgert darüber). „Stell dir vor, chérie, die Algerier hätten sich einfach so Südfrankreich einverleibt“, sagte ich meiner Gemahlin, die entsetzt den Kopf schüttelte.

Der zweite große Schritt kam 1866, nach dem preußisch-österreichischen Krieg. Man redet ja gern vom Bismarcks Mäßigung, der gegenüber Österreich großmütig auf Entschädigung und Gebietsabtretungen verzichtet hat. Dafür aber hat er sich anderswo reichlich entschädigt. Der gesamte norddeutsche Raum – Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover (etwa das heutige Niedersachsen) und noch eine Reihe kleinerer Staaten einschließlich der deutschen Hauptstadt Frankfurt a. M. – wurden einfach so annektiert und Preußen einverleibt. „Stell dir vor, chérie, Nordfrankreich mit Paris wäre einfach so dem vereinigten algerisch-südfranzösischen Königreich einverleibt worden“. Da ist dann Bismarck doch an eine Grenze gestoßen. Im Ausland bildete sich eine „Welfische Legion“, eine Art niedersächsische PLO oder IRA, welche das Königreich Hannover vom preußischen Joch befreien wollte. Es hat Bismarck viel Diplomatie und Fingerspitzengefühl gekostet, diese schließlich zur Selbstauflösung zu bewegen.

Das Ende von 1871 ist hinlänglich bekannt. Hier hatte Bismarck offenbar begriffen, dass man es nicht übertreiben soll, hat er die süddeutschen Staaten mit Charme, mit Schmeichelei (und reichlich Bestechungsgeld für König Ludwig II. von Bayern) dazu bewogen, mehr oder weniger freiwillig ins „deutsche“, statt „preußische“ Reich einzutreten. Deutschland war von seiner preußischen Kolonie vereint worden.

Meine Gemahlin schüttelte den Kopf und meinte: „So was bringt auch nur ihr Deutschen fertig“.