Die eigenartige Machtlosigkeit deutscher Regierungen

Wie ich vor einiger Zeit schon schrieb, habe ich die Biographie Hasselhorns über Johannes Haller gelesen. Die enthält auch den Teil von Hallers Autobiographie, welche sein Schüler Reinhard Wittram, der Hallers Autobiographie 1960 aus dem Nachlaß herausgegeben hat, unterdrückt hat. Diesen unterdrückten Teil hat Hasselhorn erstmals publiziert, er ist in der Tat eine interessante Lektüre. Ich werde in anderem Zusammenhang noch etwas darüber schreiben, hier nur einen Punkt ansprechen, der von weitergehender Bedeutung ist. Haller, damals Professor in Tübingen, schildert, wie er in Tübingen und Stuttgart die Revolution von 1918/19 miterlebte, die sogenannte „Novemberrevolution“. Er schäumt geradezu vor Wut über das Verhalten der damaligen württembergischen Regierung (Württemberg war einer der deutschen Bundesstaaten), die ohne jeden Widerstand vor einer unbedeutenden und unbewaffneten Gruppe von Revolutionären die Waffen streckte. Der König von Württemberg dankte ab, die Beamten, die Polizei, die Soldaten gehorchten der neuen provisorischen Regierung.

Im Einzelnen unterschiedlich, insgesamt aber ähnlich verlief die Revolution in ganz Deutschland. Die alten Regierungen, die über Polizei, Truppen, Waffen in mehr als ausreichendem Maße verfügten, ließen sich widerstandslos beiseiteschieben. Sprichwörtlich geworden ist Statement des letzten sächsischen Königs: „Nun, dann macht doch euren Dreck alleine“. Die folgenden, vielfach blutigen Kämpfe waren nicht Kämpfe der Revolutionäre gegen die alte Regierung, sondern Kämpfe der gemäßigten gegen die radikalen Revolutionäre.

In der Rückschau wird hier ein Muster sichtbar. Es hat im 20. Jahrhundert drei Revolutionen in Deutschland gegeben: die eben erwähnte von 1918, die der Nazis von 1933, und schließlich die „Wende“ in der DDR vom Jahre 1989. (Vermutlich wird der ein oder andere den revolutionären Charakter von 1933 bestreiten; das diskutiere ich hier aber nicht, man lese einfach den entsprechenden Band von Wehlers Gesellschaftsgeschichte).

Diese drei Revolutionen ähneln sich insofern, als die jeweilige Regierung keinen bzw. kaum Widerstand geleistet hat. Dabei verfügte sie immer über Truppen, Waffen, loyale Anhänger, also all dass, was man braucht, um sich einer Krisensituation durchzusetzen. Selbst 1933 war das nicht anders. Nicht nur die Nazis hatten ihre SA, auch die anderen Parteien, vor allem die Kommunisten hatten paramilitärische Organisationen, versteckte Waffen, auf die sie hätten zurückgreifen können. Allgemein erwartete die öffentliche Meinung 1933 das Ausbrechen eines Bürgerkrieges (man lese etwa Alfred Andersch, Die Kirchen der Freiheit). Die Nazis selbst waren überrascht, wie leicht sie sich durchsetzen konnten.

Schließlich 1989, was war da schon? Einige gewaltlose Demonstrationen, mehr nicht. Dagegen stand eine hochgerüstete Regierung mit Polizei, Geheimdienst, Armee, Waffen im Überfluss. Und was tat sie: Nichts.

Ich finde das rätselhaft. Wolfgang Pohrt schreibt irgendwo, nur in Deutschland hätte ein Begriff wie Nietzsches „Wille zur Macht“ geprägt werden können, weil nur in Deutschland die Banalität, dass man die Macht, die man hat, auch wollen muss, einer Offenbarung gleichgekommen sei. Die deutsche kollektive Psyche scheint an einer eigentümlichen Willens- oder Ichschwäche zu leiden. Woher die kommt, woran das liegt – ich weiß es nicht.

Aktuell sehen wir diese Willensschwäche wieder mal am Werke. Wir haben – nicht einmal eine Revolution, sondern lediglich – massenhafte Grenzverletzungen durch unbewaffnete, im Wesentlichen friedliche junge Männer, wir haben eine Regierung, die über Polizei, Militär, alles was man braucht verfügt, um dies zu verhindern. Sie könnte, aber sie tut es nicht. Warum, was ist da los?